Volkstrauertag am Sonntag, 15. November 2020

Der Volkstrauertag ist ein besonderer Gedenktag in Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewalt.
Der Volkstrauertag ist nicht nur mit dem Gedenken an die Opfer zweier Weltkriege verbunden. Er soll auch
mahnen und daran erinnern, wie kostbar ein Leben in Frieden ist.
Leider ist eine Veranstaltung in diesem Jahr aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich. Trotzdem möchten
wir am Volkstrauertag gedenken. Auf den Friedhöfen in den Stadtteilen, auf denen normalerweise Veranstaltungen
zum Volkstrauertag stattfinden, wird dennoch im Stillen ein Kranz niedergelegt.
Sofern die aktuellen Regelungen der CoronaVO des Landes eingehalten werden, ist es trotzdem möglich, die Krieger-
denkmale über den Tag verteilt auf den Friedhöfen zu besuchen. Beim Besuch des Friedhofes dürfen sich jedoch max.
zwei Haushalten gleichzeitig vor dem Kriegerdenkmal aufhalten, sofern die Anzahl von zehn Personen nicht überschritten
wird.

Der Krieg und die Chance des Danach
Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist 75 Jahre her. Für uns Heutige hat der Krieg einen festen Rahmen aus Jahreszahlen,
er dauerte von 1939 bis 1945. Aus dem Rückblick ergibt das die beruhigende Gewissheit: Zwischen diesen beiden Daten,
in diesem zeithistorischen Kasten steckt der Krieg. Danach kam der Frieden, in dem wir, zumal in den westlichen Demokratien,
relativ gut leben. Doch damals, im Inneren des Kastens, kannte niemand dessen Dimension.  Er war eine Black Box. Der Weltkrieg
tobte global, sein letzter Tag lag im Irgendwann einer verhüllten Zukunft. Jeder fragte sich und verfolgte täglich verzweifelt die
Nachrichten. Hörte Informationen zu Stalingrad, der Judenverfolgung, dem Bombenkrieg, hegte Hoffnung beim Hören der Reden
von Churchill oder Roosevelt.
Hunderttausende Emigranten, Verfolgte und Inhaftierte spekulierten: Geht es noch ein Jahr? Oder viel länger? Vielleicht ist es
im Winter vorbei? Millionen Menschen in der gesamten zivilisierten Welt hofften auf ein Kriegsende. Die Erlösung kam, und wer
damals jung war, hat sie miterlebt. Ja, der Krieg ist aus! Jahrelang hatten Alarmsirenen und Luftschutzkeller zum Alltag gehört,
Panik und Todesängste. Das war vorüber. Doch ganz Deutschland, ganz Europa lag in Trümmern. Alliierte Soldaten bargen
jüdische Überlebende aus den Lagern. Millionen deutscher Familien wussten nicht, ob ihre Väter, Söhne und Brüder zurück-
kehren würden, Bretterzäune hingen voll mit Suchmeldungen des Roten Kreuzes. In den Straßen sah man Kriegsversehrte
und Flüchtlinge, Kinder hatten Unterricht in Behelfsbaracken. Aber die Bomber dröhnten nicht mehr durch die Nacht, und in
Europa endete die Menschenjagd der Nationalsozialisten, endete ihre gezielte Sabotage jeglicher Menschlichkeit.

„Kriegsende“ ist ein tröstliches Wort. Der Krieg ist also an sein Ende gekommen, fast als sei er eine Art Jahreszeit gewesen.
Wie ein Naturereignis beschreibt unsere Sprache ja auch seinen Anfang: „Der Krieg bricht aus“, heißt es. So verkleidet Sprache,
was alle besser wissen: Kein Krieg bricht aus wie ein Vulkan oder ein Fieber. Menschen hatten den Krieg verantwortet,
und die Kapitulation des „Dritten Reichs“ war Voraussetzung für den Aufbruch in eine Neuordnung unter den Leitsternen
Demokratie und Menschenrecht.      
Mit der sogenannten „Stunde Null“ begann das Forträumen des Schutts. Städte erstanden auf, während alliierte Finanzhilfe
und Aufbaueifer die Bundesrepublik aus den Ruinenfeldern ins Wirtschaftswunder bugsierten. Der Kasten, in dem der Krieg
gesteckt hatte, bekam mit   dem Mai 1945 seinen Datumsdeckel, und viele Deutsche hätten den Kasten gern zugenagelt, 
um den moralischen Bankrott der Gesellschaft darin zu begraben, so wie man die Toten begraben hatte. Aber authentischer
Frieden verlangt nach Wahrheit, denn menschliche Seelen kennen keine Stunde Null. Nein: Die Seele muss ihr Handeln und
Erleben erkennen und   verarbeiten. Deshalb wurde der Deckel des Kastens nicht zugeschlagen, sondern angehoben. Und je
mehr Licht in den Kasten fiel, desto größeres Grauen kam zum Vorschein, zunächst mit den Nürnberger Prozessen.
Der Zivilisationsbruch des Holocaust hatte die Gattung verraten; er hatte Gott denunziert, klagten andere, wieder andere verloren
ihren Glauben. 

Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich diagnostizierten der Nachkriegsbevölkerung eine „Unfähigkeit zu
trauern“. Zu trauern, nicht um die sechs Millionen jüdischen Ermordeten, so viel erwarteten die Autoren gar nicht, sondern um
die entlarvten Idole des Nationalsozialismus, von denen sie sich nicht vollends verabschieden wollten. Der Weg zum Abschied
war weit. Erschütterung durch Schuld und Traumata lässt sich nicht fortschaffen wie Trümmer aus Stein. Die Psyche braucht Zeit,
sich ihren Weg durch Widerstände zu bahnen, und in den meisten deutschen Familien schwelten Scham, Angst und Verdrängung.

Die Älteren zu konfrontieren, blieb lange ein Tabu. „Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zugelassen?“
Zu solchen Fragen besaß erst die nächste Nachkriegsgeneration den Mut, die der Rebellen in den 1960er Jahren.
Sie skandierten das laute Echo auf die bald nach 1945 entstandene Devise: „Nie wieder Krieg!“ Inzwischen sind, vor und
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, eingegrenzter Kriege auf den furchtbaren Zweiten Weltkrieg gefolgt, in Korea, Algerien,
Vietnam und Kambodscha, in Jugoslawien – und heute in Syrien, in der Ukraine, in Libyen, im Jemen.
„Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zugelassen?“ So werden Leute, die heute Kinder sind, später einmal mit
Recht fragen. Die Zuschauer wie die Schuldigen werden dann wieder versuchen zu verdrängen, zu bagatellisieren, zu vertuschen,
den Kasten zuzunageln. Doch die Weltgemeinschaft lernt, und es wird wahrscheinlich mehr und schneller Antworten geben als
zuvor in der Geschichte.  Internationales Strafrecht hat seit den Nürnberger Prozessen enorme Fortschritte gemacht. 
Allem Populismus zum Trotz existieren mehr Demokratien als je zuvor.

Wie stark weltweite Anstrengung für menschliche Zwecke wirken kann, das beweisen uns in diesem Jahr die Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler in der Corona-Krise. Das Virus ist kein Feind, es ist nichts als ein genetische Programm-
partikel, das sich vermehrt. Ganz gleich, was egoistische Regierungen und Konzerne treiben: Auf allen Kontinenten
werden Erkenntnisse ausgetauscht, freut man sich an Fortschritten und sucht nach Impfung und Heilung, unterstützt von
Leuten, die für das Allgemeinwohl geben.

Die Menschheit kann sich selbst der ärgste Feind sein, wie in der von Deutschland initiierten Barbarei zwischen 1933 und
1945. Die Menschheit kann aber auch zur Freundschaft mit sich selber finden, sich mit sich selber anfreunden. Vielleicht
gibt auch und gerade die Corona-Pandemie uns dazu jetzt eine Riesenchance.

(Erstellt am 12. November 2020)